Page 105 - 35 Jahre Quedlinburger Musiksommer
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Zum Abschluss







            Nach dem Auffrischen der Erinnerungen durch  Namen waren oder wurden über die Grenzen hinaus be-
           Gespräche, Programmhefte, Notizzettel und Fotos sowie  deutungsvoll: Güttler, Otto, Pank,  Webersinke, der
           nach der Durchsicht ungezählt vieler Zeitdokumente  Kreuzchor und der Thomanerchor sollen nur beispiel-
           lassen sich die Gedanken an die mehr als 1000jährige  haft genannt werden.
           Geschichte des Quedlinburger Musiklebens zum Ab-  Seltener waren Künstler aus dem Ausland und aus
           schluss nicht verdrängen. Stift und Stadt hatten immer  dem  Westen Deutschlands. Das änderte sich 1989
           hohe und höchste Ansprüche an das geistige Leben, und  schlagartig. Es herrschten Euphorie und Austausch in
           was das Besondere ist, diese wurden auch in die Realität  lange ungewohnten Dimensionen. Künstler von Welt -
           umgesetzt. Sicher gab es Höhen und Tiefen, aber Stift  ruf kommen seither nach Quedlinburg. Und der
           und Schloss mit Kirchenmusik, Antiphonar, Werck-  »Quedlinburger Musiksommer« erwarb sich als Festival
           meister, Festmusik und Gesang, die Stadt mit Stadt-  der klassischen Musik mit seiner ganzen Bandbreite von
           musikern und musikalischem Gemeindeleben spielten  gregorianischer Strenge bis zur freien Improvisation
           immer eine große Rolle.                 einen guten, weit gehörten Ruf.
            Im 17. Jh. nach dem 30jährigen Krieg waren  Die Wahrnehmung der Verkündigung der Frohen
           zeitweise 14 städtische Musiker und Kirchenmusiker  Botschaft entfernte sich aus verschiedenen Gründen
           hauptamtlich angestellt. Zu Zeiten des Wohlstandes im  während der DDR-Zeit und der Gegenwart weitgehend
           18./19. Jh. wurde das Collegium musicum, gegründet,  von der traditionellen Form. Die Ansprache und Ver-
           wurden kurz nach ihrer Uraufführung große kirchen-  mittlung über die Musik allein oder in Verbindung mit
           musikalische Werke in Quedlinburg aufgeführt (Orato-  anderen Kunstformen blieb lebendig und erfassbar.
           rien von Mendelssohn Bartholdy, Carl Loewe, Louis  Wir haben das große Glück und die große Freude,
           Spohr). Es gab große Musikfeste, das erste dirigierte  einen kleinen Ausschnitt aus Quedlinburgs Musik -
           1820 Louis Spohr.  (1)                  geschichte auf beeindruckend hohem Niveau als aktive
            Nach dem 2. Weltkrieg war der Hunger nach Kultur,  Laien mitgestalten oder als Zuhörer erleben zu können.
           nach Theater, nach Musik geradezu zu spüren. Chöre in  Die Notwendigkeiten und Zwänge der Gegenwart
           Schulen, Gemeinden waren in der Freizeit aktiv. Die  trüben manchmal den Blick dafür, welchen Schatz,
           Musikschule wurde gegründet. In der DDR-Zeit  welches Weltkulturerbe wir mit dieser Musik in unserer
           eröffneten sich dadurch Räume für Fantasie und Frei-  Stadt haben. Es gilt, diesen Schatz lebendig zu erhalten,
           heit. Angespornt durch tatkräftige, interessierte und  damit er sich weiterentwickeln und weiterhin wirken
           fähige Lehrer, Kirchenmusiker, Künstler wurde an das  kann.
           einstige Niveau angeknüpft, zwischenzeitlich verfemte
           Kunst (Hindemith u.a.) wieder lebendig. Die agieren-  Nikolaus Harnoncourt (1929–2016) formulierte
           den Künstler stammten größtenteils aus der DDR, ihre  1991 sein Verständnis von Musik:  (31)


                 »Wir Musiker – ja alle Künstler – haben eine machtvolle, ja heilige Sprache zu verwalten.
                Wir müssen alles tun, dass sie nicht verloren geht im Sog der materialistischen Entwicklung.
            Es ist nicht mehr viel Zeit, wenn es nicht gar schon zu spät ist, denn die Beschränkung auf das Denken
             und die Sprache der Vernunft, der Logik, und die Faszination durch die damit erzielten Fortschritte
            in Wissenschaft und Zivilisation entfernen uns immer weiter von unserem eigentlichen Menschentum.
            Es ist wohl kein Zufall, dass diese Entfernung mit der Austrocknung des Religiösen Hand in Hand geht:
                 Die Technokratie, der Materialismus und das Wohlstandsdenken brauchen keine Religion,
                                 kennen keine Religion, ja nicht einmal Moral.
                         Die Kunst ist eben keine hübsche Zuwaage – sie ist die Nabelschnur,
                       die uns mit dem Göttlichen verbindet, sie garantiert unser Mensch-Sein.«




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